Ein kritischer Blick auf die Akademisierung der Psychotherapieausbildung

Ein kritischer Blick auf die Akademisierung der Psychotherapieausbildung

Startdatum
19. Mai 2022
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Warum ist diese Petition wichtig?

Gestartet von Sarah Buchner

Kritische Überlegungen zur geplanten Neuregelung der Psychotherapieausbildung 

Kurzfassung:


Die Ausbildung zum/r Psychotherapeut*in soll neu geregelt und zu einem Direktstudium Psychotherapie werden. Diese Entwicklung sehen wir kritisch, daher fordern wir, dass eine Neuordnung der Psychotherapieausbildung auch zukünftig folgende Aspekte gewährleistet: 

  • Patient*innen brauchen Psychotherapeut*innen, die über eine reflektierte und verarbeitete Lebenserfahrung verfügen, um mit ihnen in einen professionellen, engagierten und belastbaren Dialog eintreten zu können. Weiters muss gewährleistet sein, dass Personen mit unterschiedlichem sozialem und kulturellem Hintergrund die Ausbildung absolvieren können. Die finanzielle Belastung muss sich innerhalb eines für breite Bevölkerungsschichten vertretbaren Rahmens bewegen.
  • Die Ausbildung muss ein hohes Maß an innerer Geschlossenheit und Kohärenz gewährleisten, sowie über einen konsistenten Theorie-Praxis-Bezug verfügen. Nur dadurch kann sichergestellt werden, dass Patient*innen auf Psychotherapeut*innen treffen, die nicht einfach (mehr oder weniger überprüfte) Techniken anwenden, sondern fähig sind individuell auf dem Hintergrund einer spezifischen Therapiemethode („Schule“) auf ihre Patient*innen einzugehen.
  • Auszubildende brauchen Rahmenbedingungen, die ihnen den Erwerb der Kenntnisse in enger Verbindung mit ihrer Persönlichkeitsentwicklung in einem kontinuierlichen, integrierenden Prozess eigenverantwortlichen Lernens ermöglichen. Dieser individuelle Lernweg darf nicht durch strukturelle Rahmenbedingungen (z. B. festgelegte Ausbildungszeiten) behindert und muss von einem Team von Lehrpersonen derselben Methode begleitet werden.
  • Die Verbindung von Psychotherapieforschung und Psychotherapieausbildung muss weiterhin gewährleistet sein, damit es nicht zu einem Theorie-Praxis -Gap, sondern zu einer Verbindung zwischen wissenschaftlichen Theorien und (subjektivem) Praxis- und Handlungswissen kommt. 
     

 

 

 

 

ausführliche Fassung

Die Ausbildung zum/r Psychotherapeut*in soll neu geregelt und - angepasst an die Bologna-Architektur - zum Direktstudium Psychotherapie werden. Diese Entwicklung sehen wir kritisch. Nachfolgend führen wir unsere Kritikpunkte aus und regen die Diskussion über ein alternatives Modell an, das die Bedürfnisse der Patient*innen ins Zentrum stellt und trotzdem die Akademisierung des Berufsstandes sicherstellt. 

Patient*innen brauchen Psychotherapeut*innen, die über eine reflektierte und verarbeitete Lebenserfahrung verfügen, um mit ihnen in einen professionellen, engagierten und belastbaren Dialog eintreten zu können:


In der Konzeption des Psychotherapie-Gesetzes von 1990 ging man von einem postgradualen Konzept aus. Man baute auf der Idee des „Quellberufs“ (Gesundheitsberufe, Pädagogik, Kultur- und Sozialwissenschaften etc.) auf, um sicherzustellen, dass Auszubildende bereits über eine gewisse emotionale Reife verfügen, sowie erste berufliche Erfahrungen im psychosozialen Bereich haben und darüber bestimmte Entwicklungsaufgaben (Unabhängigkeit von den Eltern, finanzielle Unabhängigkeit, Konfrontation mit psychosozialen Notlagen und Übernahme von Verantwortung für sich selbst und andere) bewältigt haben. Bei der Aufnahme in die fachspezifische Ausbildung werden aktuell bestimmte persönliche Eigenschaften, wie Reife, Reflexions- und Empathiefähigkeit, Offenheit gegenüber anderen Ansichten, Erfahrung mit weniger privilegierten Lebensumständen usw. geprüft, die die Eignung für die Ausbildung zum/r Psychotherapeut*in, sowie die Passung zur jeweiligen Methode sicherstellen sollen. 
 Wir sind der Ansicht, dass diese Konzeption auch heute noch gültig ist, weil Patient*innen zurecht erwarten, dass die Personen, denen sie sich anvertrauen über eine realistische und von Empathie getragenen Sichtweise auf ihre Problemlagen verfügen, die sie auf dem Hintergrund verarbeiteter Lebenserfahrung entwickelt haben.

Sowohl die Möglichkeit, das Studium mit 18 Jahren zu beginnen als auch der Zugang unabhängig von Erfahrung im psychosozialen Bereich erscheint in diesem Zusammenhang problematisch.

Patient*innen brauchen Psychotherapeut*innen mit Zugang zu weniger privilegierten Lebensbedingungen und mit unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit:

Patient*innen kommen aus den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Hintergründen und brauchen Behandler*innen, die dahingehend über einen möglichst vielfältigen Erfahrungshintergrund verfügen.

Das Direktstudium hingegen, das mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden ist, wird überwiegend von Personen der oberen Mittelschicht gewählt. In den USA erbrachte eine bereits 1958 publizierte Studie von August B. Hollingshead und Fredrick Redlich unter anderem den Befund, dass „mit absteigender Sozialschicht die Häufigkeit und Schwere psychischer Erkrankungen zunimmt und die Chance, eine einigermaßen adäquate Behandlung zu bekommen, abnimmt“ (aus dem Vorwort zu Hollingshead 1975, vii). Die Wahrscheinlichkeit, dass Behandler*innen während ihrer beruflichen Laufbahn auch mit weniger privilegierten Personen in Kontakt kommen ist daher sehr groß. Vorerfahrung mit und Zugänge zu unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen sind als Voraussetzung für die Ausbildung zum/r Psychotherapeut*in daher von großer Bedeutung. 

Patient*innen brauchen Psychotherapeut*innen, die über einen konsistenten Theorie-Praxis-Bezug verfügen:


Mit der Entscheidung für das Bologna-Modell geht die Ausbildungshoheit auch für den 2. Abschnitt (Master) an die Universitäten, die sich aussuchen können, mit welchen Fachspezifika/ Fachgesellschaften sie zukünftig kooperieren wollen. Es ist anzunehmen, dass die Universitäten, um in einem der vier Cluster (tiefenpsychologisch, humanistisch, verhaltenstherapeutisch und systemisch) ausbilden zu können, nur noch mit einer (oder wenigen) Fachgesellschaft, die zum jeweiligen Cluster gehört, kooperieren werden. Dabei ist für Universitäten die Kooperation mit größeren Einrichtungen nicht nur leichter handhabbar, sondern auch ökonomisch besser zu verwerten. Somit besteht die Gefahr, dass kleinere Fachgesellschaften zurückgedrängt werden und ihr Beitrag zur Konsistenz und Vielfalt psychotherapeutischer Methoden und Schulen verloren geht.

Hinzu kommt, dass unter den aktuellen Bedingungen universitärer Lehre und Forschung Mitarbeiter*innen der Universität kaum noch in der psychotherapeutischen Praxis tätig sein können, umgekehrt besteht die Befürchtung, dass die Lehrtherapeut*innen der Fachspezifika die Bedingungen des Forschens auf universitärer Ebene nicht im geforderten Maß erfüllen können, sodass es zunehmend nicht nur zu einer Kluft zwischen der Vermittlung des theoretischen Wissens und der Praxis kommt, sondern auch zu einer bloßen Aneinanderreihung von Wissensinhalten über die einzelnen Methoden statt der Vermittlung eines konsistenten Theoriegebäudes. Schließlich werden sich diese Inkonsistenzen auch auf den Umgang mit Patient*innen auswirken, da sie auf Psychotherapeut*innen treffen, die einem Eklektizismus folgend beliebige „evidenzbasierte“ Techniken und Praktiken anwenden. ohne explizit integrierten Bezug auf eine übergeordnete Theorie und der damit verbundenen psychotherapeutischen Beziehungsgestaltung. Möglicherweise kann man sich in einer späteren Zeit eine Zusammenführung in eine „Allgemeine Psychotherapie“ vorstellen, der heutige Wissensstand reicht dafür jedoch noch lange nicht aus.

Auszubildende brauchen Rahmenbedingungen, die ihnen den Erwerb der Kenntnisse in enger Verbindung mit ihrer Persönlichkeitsentwicklung in einem kontinuierlichen, integrierenden Prozess eigenverantwortlichen Lernens ermöglichen:


Zu den Besonderheiten der bisherigen Ausbildung gehört es, dass die Ausbildungsinhalte von Theorie, Selbsterfahrung, Praxis und Supervision in einem integrierenden Prozess erworben werden. Die Verschränkung von Kenntniserwerb und Persönlichkeitsentwicklung setzt bestimmte Rahmenbedingungen voraus, wie die persönliche und intensive Betreuung durch Lehrende im Einzel- und Kleingruppensetting und die Möglichkeit, das Tempo der Ausbildung der persönlichen Entwicklung und den individuell sich ändernden Lebensbedingungen anzupassen. Diese Rahmenbedingungen sind unter universitären Bedingungen nicht finanzierbar und nur in eingeschränktem Ausmaß herstellbar. 

Psychotherapeut*innen sollen in ihrem Beruf gesund alt werden können:

Psychotherapie verlangt das selbstständige und eigenverantwortliche Tragen komplexer dynamischer Prozesse innerhalb der therapeutischen Beziehung, wobei der Schwerpunkt der Verantwortung für die Heilbehandlung bei dem/r Psychotherapeut*in liegt. Die damit verbundenen Arbeitsbelastungen tragen ein potenzielles Gefährdungsrisiko für Ausbrennen und für psychische Erkrankungen in sich (insbesondere hoher Job Strain, Effort-Reward-Imbalance: geringe soziale Unterstützung und hoher Rollenstress - vgl. Rau; Buyken:2015). Mit der Arbeitsbelastung umzugehen, erfordert ständige Anpassungsleistung, u. a. auch durch die Entscheidung, wie viel man als Psychotherapeut*in arbeiten kann und will. Mit einem Direktstudium Psychotherapie werden Psychotherapeut*innen aber häufig keinen „Quellberuf“ mehr haben. Damit geht die Möglichkeit verloren, seinen beruflichen Schwerpunkt im Lebensverlauf wieder in den „Quellberuf“ verlegen, beide Berufe gleichzeitig ausüben oder nur in Teilzeit als Psychotherapeut*in arbeiten zu können. Entlastungsmöglichkeiten bzw. die Möglichkeit, sich im Lauf des Lebens immer wieder verändern und neu orientieren zu können, gehen verloren. 

Grundsatzpositionen und Zielsetzungen einer alternativen Reform der Ausbildung

  • Ausbildungshoheit für die Ausbildung zum Beruf bleibt autonom bei den anerkannten fachspezifischen Einrichtungen und gewährleistet die Schulenvielfalt.
  • Hohes Maß an innerer Geschlossenheit und Kohärenz der Ausbildung.
  • Lebenserfahrung und persönliche Eignung als Zugangsvoraussetzung.
  • Begleitung des Lernweges und Anleitung durch ein Team von Lehrpersonen.
  • Verbindung von Psychotherapieforschung und Psychotherapieausbildung.

 Als Alternative schlagen wir folgendes Ausbildungsmodell vor:

1. Zugang zur fachspezifischen Psychotherapieausbildung nach einer abgeschlossenen Ausbildung mit Bachelor-Qualifikation aus dem Gesundheits- und/oder Sozialbereich. 
Je nach Grundqualifikation können bestimmte Module über einen vorbereitenden Lehrgang (derzeit Propädeutikum) nachgeholt werden. Einschlägiges psychosoziales Praktikum.

2. Aufnahme nach abgeschlossenem Bakkalaureat und Eignungsprüfung durch das Fachspezifikum bei einem Mindestalter von 24 Jahren. Umsetzung des ersten Ausbildungsabschnittes wie bisher. Für den zweiten Ausbildungsabschnitt gehen die Fachspezifika/ Fachgesellschaften eine Kooperation mit Universitäten/Fachhochschulen ein, mit dem Schwerpunkt Wissenschaftliche Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen, sowie kooperative Betreuung der Abschlussarbeit. 
Vor Beginn der praktischen Tätigkeit Erweiterung der fachspezifischen Prüfung um die gesundheitliche Eignung und Vertrauenswürdigkeit. Eintragung in die Fachausbildungsliste. Masterabschluss mit mind. 180 ECTS

3. Eintragung in die Psychotherapeut*innenliste.


Wir ersuchen Sie, eine gemeinschaftliche Prüfung der skizzierten alternativen Ausbildungsvariante anzuregen und zu unterstützen.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Kandidat*innenvertretung der ÖAGP

 

 

 

 

 

 

Literatur:

Hollingshead, A. B. & Redlich, F. (1958/1975): Der Sozialcharakter psychischer Störungen. Eine sozialpsychiatrische Untersuchung. Frankfurt: Fischer 1975. Englischsprachige Erstausgabe 1958: Social Class and Mental Illness. A Community Study. New York, London, Sidney: John Wiley.

 

Rau, R.; Buyken, D. (2015): Der aktuelle Kenntnisstand über Erkrankungsrisiken durch psychische Arbeitsbelastungen: Ein systematisches Review über Metaanalysen und Reviews. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 59 (3), 113-129

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